Kaspar Hausers Lehrer

Der Magistrat war ratlos. Der Bub war vielleicht 16 Jahre alt, aber ahnungslos wie ein Kleinkind. Nicht einmal die elementarste Bildung.

Man entschied, den Bub in eine Familie zu geben. Doch wer sollte sich seiner annehmen? Da bewarb sich ein junger Gymnasiallehrer, der gerade mit 28 Jahren einen Antrag auf Frühpensionierung gestellt hatte. Der Mann hieß Georg Friedrich Daumer. Sein Schützling war Kaspar Hauser.

Über Kaspar Hauser sind ganze Regalmeter geschrieben worden, über Daumer beklagenswert wenig. Dabei hat Daumer selbst drei grundlegende Bücher über Kaspar Hauser veröffentlicht. Und obendrein eine gewaltige, Lebensleistung an Poesie, Spekulation und Philosophie erbracht.

1800 in Nürnberg geboren, lernte Georg Friedrich früh die Armut kennen. Der Vater, ein Kürschnermeister, machte Bankrott und verfiel dem Wahnsinn. Aufgrund seiner hervorragenden Noten bestimmte man den Jungen zum Studium der Theologie, doch im pietistischen Erlangen herrschte eine Atmosphäre von religiöser Hysterie. Studenten kasteiten sich, damit ihnen der Heiland erscheine; einer entmannte sich sogar, um sich seiner Gelüste ein für allemal zu entledigen. Daumer studierte lieber fürs Lehramt und fand ein Unterkommen im Nürnberger Ägidiengymnasium. Vom 18. Juli 1828 bis zum 17. Oktober 1829, dem Tag, an dem ein erstes Attentat auf Hauser fehlschlug, kümmerte sich Daumer um seinen Kaspar. Mit Engelsgeduld und überraschender Behutsamkeit versuchte er dem Jungen, die Welt zu erklären. Seine Aufzeichnungen werfen ein bezeichnendes Licht auf den Schützling wie auf ihn selbst:

„Als er in eine Kirche kam, glaubte er, der Pfarrer zanke mit den Leuten. Man sagte ihm dieser Mann sagte den Leuten, wie sie leben sollten und ermahne sie, gut zu sein. Er verwunderte sich hierauf, dass es böse Leute geben könne, wenn man ihnen doch sage, dass sie gut sein sollten. Wenn er der Pfarrer wäre, sagte er, würde er die Leute an neun Sonntagen in die Kirche kommen lassen und sie ermahnen gut zu sein, dann aber kein Wort mehr darüber verlieren.“

Nach dem ersten Attentat kam Hauser in eine neue Obhut. Daumer fürchtete zeitweise selbst um sein Leben und ging in Deckung. Umso mehr Aufsehen erregte der Privatgelehrte nur wenige Jahre später:

Als die Cholera in Franken wütete, wetterten die Pfaffen von der Strafe Gottes. Da platzte dem Gelehrten der Kragen. Daumer widmete sich der Religionsforschung und stellte die These auf, dass der christliche Opfergedanke, der sich durch Altes wie Neues Testament zieht, im Moloch-Kult wurzele. Moloch war eine schreckliche Gottheit, eine riesige hohle Bronzestatue und gigantischer Verbrennungsofen, dem die erstgeborenen Kinder lebendigen Leibes dargebracht wurden. Mit seiner Schrift „Sabbath, Moloch und Tabu“ (1839) rückte Daumer das Christentum in den Kreis der Menschenopferkulte. Daumer ging noch einen Schritt weiter und sah in den Hexenverbrennungen der Kirche ein Fortwirken des Moloch-Kultes. Dies beförderte ihn neben David Friedrich Strauss („Das Leben Jesu“) zu einem der strittigsten Religionsforscher des 19. Jahrhunderts.

Aber Daumer ging es nicht um die Abschaffung der Religion an sich. Ohne Religion kann kein Mensch leben, glaubte er. So propagierte er eine Naturreligion, als deren erster Prophet Daumer sich selbst ansah. Doch der Prophet gilt nichts im eigenen Land, Daumers Ruf verhallte auf weiter Flur. Umso überraschter reagierten seine Leser, als der gebürtige Protestant und Pfaffenfresser 1858 zum Katholizismus übertrat. Daumer rechtfertigte seine Konversion folgendermaßen: „Ich bin, der ich war... Im Katholizismus hat sich das alte, große poetische Heidentum bei seinem welthistorischen Untergange gerettet. Ich bin ein Heide, und da es heutzutage kein Heidentum mehr gibt, als das in christlicher Form ausgeprägte des Katholizismus, so musste ich Katholik werden.“

Übrigens hatte der katholische Heide ein großes Herz für Tiere. Bereits 1840 hatte Daumer den „Nürnberger Verein zur Verhütung der Tierquälerei“ mitbegründet. Neben seinen theologischen Spekulationen trat Daumer auch als Poet und Nachdichter orientalischer Lyrik hervor. Auch in seiner lyrischen Produktion zeigt Daumer sich widersprüchlich: Sinnesfreudige Poesien stehen abgründigen Meditationen gegenüber.

Daumer starb am 14. Dezember 1875 in Würzburg, am 42. Jahrestag, da Kaspar Hauser im Ansbacher Hofgarten den tödlichen Messerstich empfangen hatte. Daumer wäre trotz seiner umfangreichen Produktion längst vergessen, wäre da nicht dieses unbekannte Findelkind. Und ein bekannter Komponist, eine ganze Generation jünger als der Literat. Wer Daumers Lyrik ausloten will, der lausche Brahms „Wie bist du meine Königin.“ Vielleicht mit dem Walkman in der Daumerstraße in Großreuth hinter der Veste.

Quelle: Nürnberger Zeitung

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