Ein Platz an der Sonne

Diese Villa ist dem Himmel näher als der Erde. Frei thront sie auf ihrem Plateau über der Parkstraße in Chemnitz.

Das intensive Gelb ihrer Fassaden kontrastiert kräftig mit dem kalten Winterhimmel, dessen tiefes Blau mit den Fenstern, Balkonen und Gartenzäunen korrespondiert. Die Sonne steht noch im Osten, bescheint das helle mäandernde Treppenband, das zur Villa hinauf führt, beleuchtet Eingang, Veranda und Arbeitszimmer. Im Laufe des Tages wird die Sonne um das Haus wandern, der Rundung der blauen Veranda folgend zunächst auf die Mittagsseite des Arbeitszimmers, wird dann das Wohnzimmer durchfluten und bis in die Diele vordringen, wird am Nachmittag ihre Bahn um den Musiksalon ziehen um am frühen Abend, wenn die ganze Familie im Speisezimmer versammelt ist, die letzten strahlen in die Runde zu werfen.

Henry van de Velde hat dem Strumpffabrikanten Herbert Eugen Esche und seiner Frau Johanna 1903 in Chemnitz einen phantastischen Sonnenpalast gebaut. Er hat ihnen Licht, Freiheit und gediegene Eleganz geschenkt. „Aber Herbert, findest Du so etwas denn schön?“ fragten Tanten und Onkel den Neffen konsterniert, als sie den merkwürdig schrankartigen Neubau des belgischen Künstlers das erste mal betraten. Ja es ist schön, wunderschön! Denn „schön ist ein Haus, das gestattet, in Berührung mit Himmel und Baumkronen zu leben / schön ist ein Haus, das anstelle von Schatten Licht hat / schön ist ein Haus, dessen Räume kein Gefühl von Eingesperrtsein aufkommen lassen“, formuliert Siegfried Giedion 1929.

Was war, ist. Was ist, war. Die Zeitebenen verschieben sich, so dass einem fast schwindlig werden kann Die Villa Esche war auch Sowjetische Militärkommandantur, Stasi-Immobilie nebst Kinosaal, Bildungszentrum der Bezirkshandwerkskammer und zuletzt Ruine. Nun ist sie strahlendes Jugendstil-Denkmal sinnliches Museum, farbige Animation und zu Teilen blitzende Kreation. Allerdings eine Kreation mit hohem Wahrscheinlichkeitswert. „Es ist sehr viel neu, es ist viel rekonstruiert, man spürt das, aber es stimmt“, resümiert van de Velde Spezialist und Mitglied des Kunstbeirats Klaus Jürgen Sembach. Alt ist das Haus selbst. Original sind alle Fenster und fast alle Türen, viele Böden, die zentrale Treppenanlage in der Wohnhalle und das schlichtere Treppenhaus im Wirtschaftstrakt, die Balkendecke im Arbeitszimmer, manches Stuckornament, eine Bordüre, Teile der halbhohen Wandvertäfelungen und der grünglasierte Kachelofen in der Wohnhalle. Überraschungsfunde auf der Baustelle gaben Hinweise auf die Muster der Textilbespannungen.

Doch Vieles wurde nach alten Fotografien neu gebaut. Digitale Vermessungs- und Entwurfstechnik machten es möglich. So sind sämtliche Leuchtkörper und sämtliche Heizkörperabdeckungen 3-D-Interpretationen. Auch den Holzvertäfelungen im Arbeitszimmer und im Speisezimmer sieht man den Neuwert an. Gäbe es da nicht die von der Familie gestifteten, in die Täfelung eingepassten Ahnenportraits; stünde dort nicht der Eßtsich und die Stühle, die sich die Esches schon zu ihrer Hochzeit geleistet haben; wäre der Tisch nicht mit van de Veldes Meißner Porzellan gedeckt; der Raum wäre unerträglich glatt. Solides Handwerk unserer Zeit. Auch im vorgelagerten Musiksalon amalgamieren Denkmal, Museumsstücke und „Foto-Montagen“. Durch den Einbau des Kinosaals war die ursprüngliche Raumfassung völlig zerstört. Jetzt schlängelt sich wieder ein zarter Stuckfries in Kopfhöhe um den Raum, die Messingabdeckungen der Heizkörper blinken wie Kühlerroste von Nobelkarossen und an der Decke fliesen Stuck, Messing und Lampenbündel zu einer ausladenden Kunstblume zusammen.

Das Ambiente würde als falsch empfunden, wären da nicht die originalen weißen Musikzimmerbänke mit ihren dunkelgelben Bezügen, die dem Raum Gehalt geben. Die Animation ist so perfekt, dass man meint, Debussys leichtfüßige Klavierpassagen aus „Childrens Corner“ durch den Raum schweben zu hören. Legitimiert als dieses Atmosphärische die kriminalistisch bis sensualistische Rekonstruktion auch da, wo materielle Befunde fehlen? Die Architekten Wendisch und Bochmann, der Bauherr, die Denkmalpfleger und der Kunstbeirat haben miteinander gestritten und Kompromisse gefunden. Das Ergebnis muss weiter diskutiert werden, auch um all zu eilfertige Nachahmer von der Mechanisierung der Methode abzuhalten.

Es geht um den Wahrheitsgehalt des Raumeindrucks und die Frage, wo die Grenze zur Fälschung überschritten wird. Dabei scheint der Streit um den Ausbau des Dachgeschosses zu einem Seminarraum zunächst unerheblich: Ist doch die Veränderung der Dachform nach außen nicht sichtbar. Für die neue Nutzung als Tagungsort ist der Seminarraum unter dem leicht gewölbten Glasdach ein Gewinn. Doch der trapezförmige, grünliche, trittfeste Glasboden des Seminarraums ist zugleich Lichtfond für die farbig rekonstruierte Glasdecke über der zentralen Wohnhalle. Durch die neue Zwischenlage wird das Licht so stark gebrochen, dass es in der Halle dämmrig wird. Alte Fotos zeigen aber eine taghelle Sitzgruppe im Zentrum des Hauses. Für jeden Schnörkel mussten die Fotos Beweise liefern, aber den entscheidenden Hinweis auf die Lichtregie hat man übersehen. So legt sich ein Schatten über den revolutionären Sonnenpalast und seine Wiederbelebung als van de Velde Museum und nobler Treffpunkt von Industrie und Kultur.

Quelle: Süddeutsche Zeitung

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