E wie Eschenblatt

Im Chemnitzer Gründerzeitviertel ist Henry van de Veldes Meisterwerk wieder zu sehen: eine späte Jugendstil-Villa

Chemnitz gilt als hässlich. Richtig, denn Plattenbauten und ein riesiger bronzener Karl-Marx-Kopf sind nicht gerade schmückend. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.

Denn das ehemalige „Sächsische Manchester“ besitzt auf dem Kassberg das angeblich größte Gründerzeitviertel Europas, und immer mehr dieser Bauten erstrahlen in einstiger Pracht. Von Neogotik über Jugendstil-Lieblichkeit mit Blüten umwundenen Frauenköpfen bis zu Bauhaus-Anklängen findet sich dort alles. Der Schönheitspreis gebührt hier wohl dem Doppelhaus Barbarossa-Straße 48/52 mit seinem die ganze Fassade gestaltenden farbigen Majolika-Schmuck, erbaut 1897/98 von Architekt Reinhold Sieber.

Dennoch wird es schon bald durch die sanierte Esche-Villa in der Parkstraße Konkurrenz erhalten. Errichtet wurde sie in den Jahren 1902/3 vom Mitbegründer des Jugendstils, Henry van de Velde (1863-1957). Der Antwerpener, der nach rund zwei Jahren in Berlin 1902 nach Weimar übersiedelte und dort 1907 die alsbald renommierte Kunstgewerbeschule gründete, übernahm 1911 auch die Erweiterung der Esche-Villa und den Bau der Remise.

Das Haus, umgeben von einem 10000 Quadratmeter großen Park, verkörperte ein (ost-)deutsches Schicksal. Nach 1945 musste der Fabrikant Herbert Esche (1874-1962) ausziehen. Zuerst nutzten es die Russen als Kommandantur, dann der Staatssicherheitsdienst und zuletzt die Handwerkskammer. Viel Geld wurde nicht hinein gesteckt, doch Architekt Werner Wendisch, der die Restaurierung leitet, ist dennoch froh darüber: „Sonst hätten wir hier keine Originalsubstanz mehr.“ Und die fand er reichlich. Der erste Blick gilt der Gliederung der ockerfarbenen Fassade. Van de Velde, ursprünglich eher Möbeldesigner und als Architekt ein Autodidakt, arbeitete mit Linien und Spannungen. Die Vertikalen und Horizontalen hat er bewusst akzentuiert. Nur diesem Zweck dienen die Strebepfeiler an der Westseite des Hauses.

Nord- und Westseite des Hauses sind zurückhaltend gestaltet, auffälliger die Süd- und Ostpartien. Gerade rekonstruiert man den großen Südbalkon, mit Aussicht aufs Erzgebirge. Vorlagen getreu nachgebildet wurden bereits die Auffahrt und die Gartentreppe. Frisch eingedeckt zeigt sich das Dach:

nach einiger Suche fand sich ein Betrieb, der noch die damals üblichen Ziegel fertigen kann. Original sind die unterschiedlich großen Fenster mit ihrer dunkelblauen Einfassung, die nur aufgearbeitet werden mussten. Als erstes Haus in Deutschland hatte die Esche-Villa sogar ein Schiebefenster. An den Fenstergittern findet man stets ein stilisiertes „E“ für Esche, den Auftraggeber.

Original aus van de Veldes Hand sind auch die meisten Türen sowie die Holztreppe und das Geländer im Hausinnern. Original-Kacheln und Reste der Wandverkleidung wurden ebenfalls entdeckt. Sämtliche Räume sind um die große zweigeschossige Halle angeordnet. Gerade wird das ehemalige Musikzimmer in Stand gesetzt, das die Stasi brutal in ein Kino umfunktioniert hatte. Immerhin kam nach Entfernung der Abhängung die ursprüngliche Stuckdecke zum Vorschein. Der Clou aber ist das Glasoberlicht über der Halle. Dessen schmiedeeiserne Halterung, ein Schmuckgitter, zeigt als tatsächlich einziges Stück im Haus florale Jugendstil-Reminiszenzen. Zur Überraschung der Fachleute wurden farbige Glassplitter gefunden. Doch wie sie einsortieren? Die damaligen Schwarz-Weiß-Fotos helfen da nicht weiter. Nach langem Grübeln und mythologischen Studien will Architekt Wendisch die Gläser wie Eschenblätter anordnen. Den Namen des ursprünglichen Eigners spiegelt dies Lösung ebenfalls wider. Doch sie ist, wie Wendisch einräumt, eine Hypothese.

Insgesamt gesehen konzipierte van de Velde das Haus von innen nach außen. Das Äußere war nur die Hülle. „Bauherr und Architekt befanden sich dabei auf einer Linie bis hin zur Kleidung der jungen Frau Esche.“ beschreibt es Wendisch. „So hat van de Velde hier zwischen ausgehendem Jugendstil und moderner Bauhausarchitektur ein Gesamtkunstwerk von europäischem Rang entwickelt,“ begeistert sich der Experte. Am 11. Mai wird die Esche-Villa als kulturelle Einrichtung der Stadt Chemnitz wieder eröffnet, ausgestattet mit original van de Velde-Möbeln. Die fanden sich teils noch in Chemnitz, teils wurden sie 1990 auf einer Münchner Auktion ersteigert. Musik soll hier wieder erklingen, und in der ebenfalls restaurierten Remise wird ein Restaurant die Besucher stärken.

Quelle: Chemnitzer Zeitung

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