„Die Meisterhäuser“

Geschichte(n) des Hauses Schnieglinger Straße 210
Autoren: Mathias und Astrid Kreibich

Dienstag, der 2. Juni 1905 – ein Mann schleppt sich die staubige Schnieglinger Straße entlang, bepackt mit einem Sack, gestützt auf einem Stock und sinkt vor dem Haus Schnieglinger Straße 210 im Schatten eines lila Flieders nieder.

Er begegnet einem Jungen, der mit einem Holzreifen neugierig auf ihn zuläuft und ihn fragt, woher er komme. So beginnt er von seiner Reise und seinen Erlebnissen zu erzählen; von den Menschen, die er in Nürnberg und Fürth gesehen hat, unter welchen Verhältnissen sie leben und wie er nicht mehr leben will. Er erzählt von der Angst der Menschen, ihre Arbeit zu verlieren, von der immer währenden Suche nach Unterkunft in den lichtarmen Gassen der freien Reichsstadt.

Der Junge hört gespannt zu und verzieht leicht die Nase, als ob er riechen könnte, wie die Kloake auf den Nürnberger Straßen rinnt, wie die Küchenabwässer geschwängert durch einen Geruch von Salmiak und Hafergrütze sich ihren Weg durch das schmierige Pflaster der so genannten „freien Stadt“ suchen. Der jetzt plötzlich noch müder wirkende Mann erzählt von den schmalen für Menschen gebauten Hühnerleitern in die Dächer der hohen Häuser, vom Leben in feuchten Kellerwohnungen und von der Gier der Besitzer der Mietskasernen. Vom letzten großen Brand, der vielen Arbeitern und ihren Kindern das Leben gekostet hat.
Bedächtig beugt er sich zu dem Jungen herüber. Der Junge fragt wissbegierig, warum die Menschen in den Städten so eng und unter solchen schlimmen Bedingungen leben müssen.

„Die Arbeit, die Arbeit mein Junge“, antwortet der Mann, „die Städte werden ständig erweitert durch die steigende Bevölkerungszahl.“ „Wieso?“, führt der Kleine seine Befragung fort. „Die Arbeiterfamilien aus der Umgebung erhoffen sich durch den wirtschaftlichen Aufschwung Arbeit und somit Brot für ihre Familien. Stell dir das wie in einem Bienenstock vor“, meint der Mann mit einem zackigen Schulterblick zurück nach Nürnberg. „Von zehn Menschen in der Stadt sind sieben Arbeiter in einer Fabrik, jede Familie hat durchschnittlich mindestens sechs Kinder. Auf dem Land gibt es für sie keine Arbeit mehr“, ergänzt er noch.

Der Junge ist erstaunt, er war noch nie in Nürnberg oder Fürth, sein Vater arbeitet sechs Tage in der Woche als Meister in der Kapselfabrik von Herrn Vetter – dem Fabrikbesitzer – in Schniegling.

Der Junge, der sich selbstsicher als Anton vorstellt, zeigt auf den militärisch wirkenden roten Bau am Ende der Schnieglinger Straße. Der Mann, der seinerseits väterlich mit „Franz“ salutiert, verzieht die Nase, denn der Westwind trägt ihm einen stechenden Geruch zu. „Verätzte Zinnfolie“, meint er - „So hat jeder Landstrich seinen eigenen Geruch“, flüstert Franz. Der Junge schweigt verunsichert. Franz würdigt das riesige Gebäude mit abschätzendem Blick, er lauscht auf das rhythmische Stampfen der Maschinen, die Fenster der Halle sind geöffnet. Das tönende Stampfen und der Fliederduft erzeugen in ihm ein verwirrendes Spiel von Gefühlen. „Was ist das?“, fragt Franz und deutet mit leichtem Kopfnicken auf ein märchenhaftes Haus am Fluss. „Vater sagt, das ist ein Pumpenhaus, vor der Fabrik war früher mal ein großer Garten. Jetzt gibt es nur noch Unkraut und Mücken“, entgegnet Anton.

Franz´ Interesse richtet sich plötzlich auf die sechs kleinen Häuser, die auf der gegenüberliegenden Seite der Schnieglinger Straße in erdigen Ockatönen, mit grasgrünen Fensterläden und ziegelfarbenen Biberdächern sanft die gerade sandige Straße säumen. „Maschinengleich, uniform, aber ungemein nah, die Straße wie ein Reißverschluss, um den Schlitz zwischen Wohnen und Arbeiten zu schließen“, murmelt er vor sich hin.
Plötzlich spürt er die Luft, die von der Pegnitz durch die Zwischenräume der Gebäude streicht und sein Blick gleitet hinauf zu den Dächern der „Meisterhäuser“, wie sie Anton nennt.

„Hier lebe ich“, sagt Anton begeistert und deutet auf die zwei Eingänge, die zur Schnieglinger Straße zeigen. „Warum zwei Eingänge? Warum Meisterhäuser?“, fragt Franz.

Anton lacht: „Drei Eingänge hat unser Haus – einer ist noch auf der Rückseite, drei Keller, vier Treppen, zehn Zimmer und einen kleinen Garten, einen Brunnen, ein Haus zum Arbeiten für uns alle und drei Aborte, Hühner, Tauben und Gänse.“

Seine Arme breiten sich soweit aus, als ob er die ganze Welt umarmen wolle.

Franz ist begeistert, weg seine Müdigkeit: „Zeigst du mir das Haus?“ Anton zögert, plötzlich kommt seine Mutter. Sie kämmt sich rasch die Haare, wischt sich ihre sandigen Hände an der Kittelschürze ab und schaut misstrauisch auf den Fremden. Anton bittet seine Mutter, bis sie nachgibt und Franz das Haus zeigt.

Sie durchschreiten eine Pforte und laufen im Vorgarten an Beeten für Rüben, Kartoffeln, Salat, Kohl und an Obstbäumen vorbei. „Äpfel, Pflaumen, Kirschen – wir wecken meisterlich ein“, erklärt die Mutter stolz. Franz erinnert sich an „die Meisterhäuser“ und Antons Mutter erzählt, dass Herr Ullrich Vetter diese Häuser für seine Werkmeister gebaut hat, weil es ihm wichtig war, dass seine Vorarbeiter auch gut wohnen – die Miete wird natürlich vom Lohn einbehalten.

Sie sollen sich selbst versorgen, abends dem Treiben auf der Schnieglinger Straße zuschauen und immer in der Nähe der Fabrik sein, sollen stolz sein und Kraft schöpfen, die Vetterschen Werte zu mehren. Franz merkt, dass Antons Mutter innerlich gerührt ist. Sie umrunden weiter das Haus und kommen am Brunnen vorbei. Franz ist durstig und schaut sehnsuchtsvoll in die Tiefe, er beugt sich über den Brunnenrand und plötzlich fällt ihm etwas aus der offenen Tasche acht Meter tief auf die Wasseroberfläche. Betrübt schaut er zu, wie die kleine Porzellanfigur langsam im Wasser verschwindet. Keine Rettung möglich, meint die Mutter: „Mir ist letztens auch ein Kamm mit Haarspange in den Brunnen gefallen und weg waren sie.“

Einige Meter vom Brunnen entfernt sieht Franz ein Sandsteinhaus mit einem rotem Ziegeldach und einem Schornstein, aus dem es raucht. Rosa, Antons Mutter, erzählt, dass hier alle drei Frauen aus dem Haus Heimarbeit machen: Abfüllen von Tinkturen, von Ölen und sonstige Arbeiten, die für die Kapselherstellung notwendig sind. Franz betritt den acht Quadratmeter großen Raum. Auf dem Boden liegen Fläschchen aus klarem oder buntem Glas, in der Ecke rußt ein Ofen vor sich hin. In Franz tauchen sofort die Bilder der Industriestädte auf, im Hintergrund das rhythmische Stampfen der Vetterschen Pressen. Rosa bückt sich und schenkt ihm eine kleine Kapsel, die er erfreut in seine leere Tasche steckt. Sie kichert: „Damit sie eine Erinnerung an uns haben.“

Plötzlich kommen aus dem Haus noch andere Leute. Franz zählt: Elf Kinder und zwei Frauen. Franz begrüßt sie und sogleich wird er von ihnen über das Haus, die Tubenfabrik und das Leben im Dorf unterrichtet. Er wirft einen Blick in den kleinen Gewölbekeller des Wohnhauses, der nicht größer als zwei Handwagen ist, aber ausreichend genug für einen Sandkasten – zwei Spannen hoch, in dem im Winter die Möhren und Kartoffeln gelagert werden. Im Halbdunklen des Kellers riecht er in Salzwasser und in Kirschblätter eingelegte Gurken.

Beim Durchgehen der Zimmer befällt ihn wieder die alte Beklemmung, welche er schon aus den Städten kannte; war es das fehlende Zuhause oder die Freude, jetzt hier bei freundlichen Menschen angekommen zu sein?

Jede der drei Wohnungen besitzt drei Zimmerchen, die Dachwohnung vier und jeweils eine Küche, mit kleinen Pritschen, gekalkten Wänden – aber mit einem erfreulichem Ausblick in den Garten... er verfällt ins Träumen und schläft erschöpft darüber auf dem Sofa in Rosas Stube ein.......

Dienstag, der 15. Dezember 1989, eine Familie wandert durch das Dickicht am Fluss, steigt den Weg zur Schnieglinger Straße hoch und sieht ein leeres, altes Haus. Fragen über Fragen. Wer hat dort gewohnt, wie ist die Geschichte? Das ist ein Ort zum Leben. Plötzlich geht ein Licht im Haus an, der Traum erlischt.

Mittwoch, der 5. Mai 1998, „Zweifamilienhaus in Nürnberg West zu verkaufen“, Nürnberger Nachrichten Seite 14.

Samstag, 25. Mai 2003, nach einiger Zeit der Renovierung des historischen Dreifamilienhauses stoßen wir bei der Arbeit im Garten auf ungeahnte Widerstände. Reste von Fundamenten, die sich als Sickergrube herausstellen und schnell wieder verfüllt werden.

Hartnäckiger und ergiebiger erweist sich ein bedeutungslos erscheinender Sandsteinring, der sich nach Wochen des archäologischen konservatorischen Grabens als funktionierender Kesselbrunnen zu erkennen gibt.

Nachdem wir mittels Kleinstspaten, Pinsel und Hebezeuge circa zehn Kubikmeter Auffüllmaterial aus dem Brunnen gefördert hatten, stellt sich das Brunneninnere als wahre Fundgrube dar. Nach circa vier Meter Grabens durch Hausmüll kommen wir in den massiven Fels, der aufgrund der Tallage die Hangkante des Pegnitztales bildet,  nach weiteren vier Metern ursprünglichen Hoflebens, stoßen wir auf eine exakt gemeiselte Brunnenstube.

Der Müll, gemischt mit 100 Jahre Geschichte, wird von uns gesiebt, sortiert, archiviert, bestaunt und nun wird phantasiert

  • über Kinderspielzeug aus Ton (Anton?)
  • über Legehilfen für Hühner aus Ton, die wohl den Hühnern das Gefühl eines Eies unter den Federn geben sollten
  • über Ausstattung der Räume mit hörnernen Gardinenösen
  • über weibliche Utensilien wie Haarspangen (Rosa?)
  • über so genannte Hygieneartikel wie hölzerne Zahnbürsten, Kämme
  • über Koch- und Backausstattung: Aussteckformen, Rändelräder (zum Kekse brechen)
  • über Geld
  • über eine Menge zerbrochenen Geschirrs, welches eventuell aufgrund von Streitigkeiten zwischen den Meistern und ihren „Weibern“ entstanden sein könnte.

Wir beginnen, Geschichten wie Fundstücke zu sammeln, hören von alten Menschen, dass die Einwohner in diesen Häusern 100 Jahre alt geworden sind. Wir hören von drei Schwestern, die Gelenköl abgefüllt haben, und wir stricken die Geschichte des Hauses ein kleines Stück weiter, indem wir selbst drei Treppen für drei Kinder einbauen, die irgendwann einmal selbst ein Teil der Geschichte werden.

Dienstag, der 27. Juni 1905, gegen fünf Uhr Abend

…... Franz erwacht durch gläsernes Plätschern, er schaut aus dem Fenster, die Frauen sitzen unter der großen Ulme, machen Bohnen sauber und streichen ihre Hände an den Kittelschürzen ab, während Anton und die anderen Jungs bubengleich leere Tuben, Fläschchen und Gläschen fein säuberlich in den Brunnen werfen und sich an dem Aufprall erfreuen. Das rhythmische Stampfen der Maschinen hat kaum noch die Kraft, dieses bübische Plätschern zu übertönen, es ist Schichtwechsel in Schniegling – bald kommen die Meister nach Hause.

Franz schleicht sich davon, winkt den Kindern Anton, Emil und Karlo zu und spürt die Kapsel in seiner Tasche. Im Hinausgehen fällt sein Blick auf das Küchenregal, dort steht eine weiße Tasse mit silberner Schrift:

„Wenn dich eine Frau um Geld anspricht, und sie bedarf es, so brumme nicht.“ Er lächelt, nimmt den Stock und Leinen und geht bedächtig Richtung Fürth.

Quelle: Schniegling, Wetzendorf und Alt-Doos, Geschichte und Geschichten aus dem Leben im Westen Nürnbergs: Mathias Kreibich
ISBN 10: 3-00-018513-5
ISBN 13: 978-3-00-018513-7

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