Den Schmerz spürbar machen...

1933 bestimmte Hitler Nürnberg zur „Stadt der Reichsparteitage“. Die ersten Planungen stammen von Ludwig und Franz Ruff, ab 1934 übernahm Albert Speer die Gesamtkonzeption.

Das Gelände zur Durchführung der Reichsparteitage im Süden der Stadt umfasste eine Fläche von 3,5 x 7,0 km (etwa das siebenfache der Nürnberger Innenstadt). Mehrere neue Bahnhöfe, ein Netz von Autobahnzubringern, Versorgungszentralen und riesige Flächen für die Unterbringung der Teilnehmer in Baracken – und Zeltstädten – gehörten zum Ausbauprogramm.

Als erster großer Neubau entstand nach einem Entwurf von Speer die 340 m lange Zeppelintribüne. Gegenüber vom Zeppelinfeld, der Tribüne vorgelagert, das insgesamt 250.000 Personen fasste, war das deutsche Stadion geplant.

Weitgehend fertiggestellt wurde dagegen die Kongresshalle von Ludwig und Franz Ruff. Dieser größte erhaltene Bau aus der Zeit des NS sollte 40.000 Sitze enthalten. Das Rückgrat der Anlage bildete die „Große Straße“. Die 60 m breite und 2 km lange gebaute Achse führte zum Märzfeld. In diesem 700 x 900 m Areal, umstellt von Türmen und Wällen für eine halbe Million Zuschauer und Akteure, sollten militärische Vorführungen stattfinden.

Das RPTG war 1945 nahezu unversehrt. 1966/67 lies die Stadt Nürnberg die Pylone des Märzfeldes und die Kolonnaden der Tribüne sprengen. Die Kongresshalle ist momentan Lagerhalle für den Quelle-Konzern (die Stadt ist Vermieter), vor den Tribünen der Zeppelintribüne rauscht jährlich das Norisringrennen. Die „Große Straße“ ist Parkplatz für die Nürnberger Messe und Standfläche für Schausteller, Zirkusse, Beachballmeisterschaften.

Investorenvorschläge für einen gewinnbringenden Umbau der Kongresshalle wurden von der Stadt bisher abgelehnt, so ist der Umgang mit dem Gelände bis heute nicht gelöst.

Mathias Hennig hat nach 1945 das erste Gesamtkonzept für das Gelände entwickelt. Sign hat ihn interviewt >

Warum fiel Ihre Wahl des Wohnorts auf Nürnberg?
Klaus-Jürgen Sembach, Architekt und ehemaliger Leiter des Centrum Industriekultur Nürnberg arbeitete 1985 in Weimar an einer Publikation über Henry van de Velde. Wir wurden „Freunde mit Grenzen“. Sembach war es, der mich aus dem Aufnahmelager Giessen hierher holte.

Warum hat Sie das ehemalige Reichsparteitagsgelände beschäftigt?
Aus fachlichem und historischem Interesse einerseits, aber sicher auch als Mittel zur Bewältigung von Vergangenheit.

Wie interpretieren Sie während der Diplomphase die existierende Nutzung des Geländes?
Grillen, Segeln, Drachensteigen, Autofriedhöfe als Spontannutzungen sollten nicht zum Konzept gemacht werden. Wenn jemand seine Bratwurst dort braten muss, oder Autowaschen, dann ist das in Ordnung. Aber das kann nicht alles sein. Die jetzige Nutzung erläutert nur die momentan Hilflosigkeit mit dem Umgang des Geländes.

Die Dauerausstellung im Inneren der Zeppelintribüne „Faszination und Gewalt“ hat Informations- und Aufklärungscharakter. Reicht das aus?
Wofür soll das reichen? Zur Erinnerung an Diktatur, Tod und Elend? Zur Aufklärung über eine Periode in unserer Geschichte? … In Auschwitz existiert ein geplanter Raum, 25 qm, 2m hoch, der ist gefüllt mit abgeschnittenen Haaren. Ein weitere ist gefüllt mit Brillen, ein dritter mit Koffern... Den Nürnberger Saal würde ich nie für Ausstellungszwecke nutzen. Speer hat ihn für eine bestimmte Art von Repräsentation errichtet. Einfach Tafeln hineinstellen kann nicht sein. Der Saal muss Dokumentationsobjekt gebauter Gewalt werden.

Darf ich Ihre Äußerungen als Kritik an der Ausstellung sehen?
Wie gesagt, der Ansatz, die Architektur der Tribüne zu benutzen, ist fragwürdig. Die jetzige Präsentation verfremdet den Raum. Insbesondere durch den Verlust der Leere des Inneren der Tribüne (in der der Saal „steckt“) vergeben sich die Ausstellungsmacher eine Möglichkeit, die Sinnlosigkeit, den Schmerz spürbar zu machen Die Sinnlichkeit des Besuchers kann so nicht voll erreicht werden. Um diese und andere inhaltliche und räumliche Probleme für mich zu lösen, entwickelte ich den „Dokumentationspark Reichsparteitagsgelände“.

Wie sieht – in kurzen Worten – Ihre Konzeption für den Dokumentationspark aus?
Kernaussage meiner Arbeit ist die Lösung des Konfliktes zwischen öffentlichem Grünraum in Zentrumsnähe mit differenziertesten Nutzungsmischungen einerseits, andererseits räumliche Dokumentation und Wertung von Geschichte und deren architektonischer Reste. In Analogie zu Leitfossilien in der Geologie werden 5 bauliche Elemente eingesetzt, die auf 5 Bedeutungsebenen hinweisen.

Warum die Wahl der 5 Leitfossilien, bzw. baulichen Elemente?
Um zu leiten und offen zu lassen, um Orientierung zu geben und um meine Haltung räumlich spürbar zu machen. Vielleicht kommt jemand auf die Idee, geteerte Stahlnägel in Verbindung mit Judenvertreibungen im Mittelalter oder zu genagelten Stiefelsohlen zu bringen.

Aufspüren
(Ergebnis einer archivalen und örtlichen Grabung) geteerte Nägel (h=1,70m) markieren das Sichtbare, was keiner bisher gesehen hat, im Gelände (Straßen, Architekturreste, Seen, Grenzen) von 1330-1994.

Sichtbarmachen
(Areal erhält neue Raumkanten) Spundwände (Länge bis mehrere 100 m) materialisieren das nicht Sichtbare, das, was nur geplant war (zum Beispiel Deutsches Stadion)

Relativieren
(Entwurf für ein neues Orientierungsnetz) Gräben (von 0,01 m bis 3 m tief) relativieren bestehende Raumstrukturen, zerschneiden, verbinden, führen neue Wege und Ziele mit sich, schaffen neue Orte.

Durchdringen
(Errichtung Dokumentationscenter mit Gästehaus) verbundene begehbare Stahlrohre (d ca. 40 cm) werden in den Trümmerschutt getrieben

Aus- bzw. Eingrenzen
(Übergänge verdeutlichen) 220 aus Rüstungsschrott gepresste 6 m hohe Säulen grenzen das Gelände ein bzw. aus.

Könnten Sie an einem Beispiel das Zusammenspiel von baulichem Element und räumlicher Auswirkung darlegen?
In einer Laubenpieperkolonie im Bereich der ehemaligen Gefangenenlager: Stahlnägel, linear aufgereiht, im Abstand von ca. 10 m geben sich ein Stelldichein mit gepflegten, geschnittenen Vorgärten. Sie markieren die aufgespürten Standorte der Baracken, in denen während der Reichsparteitage die Teilnehmer lebten und nach dem Krieg Gefangene untergebracht waren. Gräben zerschneiden die „Große Straße“, Fahrradfahrer verschwinden in ihnen und tauchen wieder auf.

Wo sollte denn Ihre „Ausstellung“ gezeigt werden?
Im Trümmerschutt. Es existiert auf dem Gelände einer Trümmerhalde (ca. 500m x 500m x 30m), die Ruinen per Loren aus der Nürnberger Innenstadt. In diesem Berg wird das Dokumentationszentrum hineingetrieben.

Warum ist dieses Zentrum der Dreh- und Angelpunkt?
Einerseits befindet sich hier die höchste Informationsdichte (Forschungsstätte, Vortragsräume, Ausstellungen, Bibliotheken, Lagerung SS-Akten), andererseits ist der Abstieg in das materielle Ende (in den Schutt) ein mentaler Faktor. Ich möchte bei meiner Architektur das „zweite ich“ der Nutzer erreichen, sie versuchen zu sensibilisieren und zu informieren.

In der Ebene 5 wollen Sie Übergänge zwischen dem Stadtraum und dem Gelände entwickeln?
Ja. Um die Dimension räumlich spürbar zu machen, Ein- und Ausgänge zu verdeutlichen und auch Haltungen zu provozieren.

Ihre Vorschläge fokussieren das Gelände auf die Nazizeit? Wo bleibt die Vorgeschichte als Freizeit – und Erholungspark der 20er Jahre?
Bis 1330 habe ich versucht zu recherchieren, alle Spuren werden mit den 5 Leitfossilien in 5 Bedeutungsebenen dokumentiert, so auch die 20er und 30er Jahre mit Tierpark und Stadionneubau.

Wie ist das Verhältnis der Vorgeschichte zu der, sagen wir, „besonderen“ Zeit zwischen 1933 – 1945?
Die stärkste räumliche Überformung des Geländes geschah zweifellos in dieser Zeit, und daher sind meine Maßnahmen dominanter und härter als vielleicht die für die 20er Jahre. Stadträumlich begründet, aber auch inhaltlich, durch den Verlust an Menschen während dieser „besonderen“ Zeit.

Die architektonische Hinterlassenschaft der Nazis ist unübersehbar, erfährt sie nicht nachträglich eine Bestätigung, da Sie sich doch recht stark an den räumlichen Plänen orientieren?
Nein, zum Beispiel die „Große Straße“ erscheint als kleinteilige, kraftlose Substruktur, von Gräben und Stahl zerschnitten. Die Führerkanzel, Fehlstellen hinterlassend, herausgebrochen aus dem Ort ihrer Bestimmung, erscheint im Dokumentationszentrum im Trümmerschutt als Objekt... ohne flankierende Stehterrassen.

Nürnberg ist ein Ort, an dem die Vernichtung der europäischen Juden mit den „Nürnberger Gesetzen“ begonnen hat. In Nürnberg wurde während der Reichsparteitage Krieg auf dem Gelände „geprobt“. Wie berücksichtigen Sie diesem Zusammenhang?
Ich mache keine Zeigefingerdidaktik. Stahl, Nägel, Spundwände, Gräben geben viel Raum für freie Interpretation. Will der Nutzer Information in Schrift und Bild, dann an den Orten der Maßnahmen selber, verstreut im Gelände; oder verdichtet im Dokumentationscenter.

Zur Person
Mathias Hennig
geboren: 27.4.64
in: Bad Liebenstein (Thüringen)

Eckdaten:
Städtebaustudium 1985-87 am ehemaligen bauhaus in Weimar
Politische Haft 1988-89
Freikauf 1989
Architekturstudium 1990-94 in Nürnberg
Diplom 94, Thema: „Dokumentationspark Reichsparteitagsgelände“
1994 Gründung „blauhaus“ / freies Planungsbüro in Nürnberg

Sie arbeiten in Ihrem Entwurf, im Freiraum und auch in der Architektur mit formal ähnlich erscheinenden Gestaltungsmitteln wie Speer oder Ruf?
Sie meinen den Maßstabssprung, Achsen, Raster, Kolonnade. In erster Linie mache ich Stadtplanung aus dem „genius loci“. In zweiter Instanz will ich die Ambivalenz der Bedeutungsträger, wie architektonische oder städtebauliche Mittel, die mit neuen Inhalten besetzt werden, dem Nutzer verdeutlichen.

Besteht dabei nicht die Gefahr, der Faszination, die ja immer noch vom Gelände und den Bauten ausgeht aufzusitzen?
Nein, ich habe analysiert und versucht, eine neue Qualität durch neue Inhalte zu entwickeln.

Worin bestehen für Sie diese neuen Inhalte?
Wie gesagt: im Zusammenspiel von Dokumentation, Wertung von Geschichte, öffentlicher Parknutzung.

Bedeutet das, dass der Besucher – nach Ihren Plänen – sich nur mit dem Gelände als Ganzes befassen kann?
Ja, er sollte es, um sich an Nürnberg als Fallbeispiel exemplarisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen zu können. Er kann aber auch nur Teile benutzen – seinen Hund an einen geteerten Stahlnagel binden und sich dabei die Schuhe zubinden.

NS-Geschichte ist in Deutschland an vielen Orten noch baulich sichtbar. Wie tragen Sie der Aussage „Das Reichsparteitagsgelände – ein Ort der Täter“ Rechnung?
Durch die Gratwanderung zwischen Aufklärung, Relativierung und Mahnung. Was ich wusste, habe ich aufgedeckt, habe versucht, Vernetzungen zu schaffen (geteerte Stahlnägel tauchen auch in ehemaligen KZ´s auf, in denen der Granit für die „Große Straße“ gebrochen wurde), habe ein Ordnungssystem entwickelt, welches den Status Quo aufhebt und neue Fragen stellt.

Wie sehen Sie jetzt nach fast zweieinhalb Jahren Selbstständigkeit das Ergebnis Ihrer Diplomarbeit?
Immer noch mit der Kernfrage behaftet, ob man einem Gesamtkonzept nur mit einem Gesamtkonzept antworten kann. Wenn ja, dann sollte ein Konzept entwickelt werden, auf dessen Basis die nächsten Generationen weiterplanen sollten.
Wenn nein, dann ist mein Ansatz im heutigen Sinne als falsch zu benennen.

Quelle: sign, 1995

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